19. August 2015

Einbindung von Sinti und Roma in Förderprojekte

Fachgespräch zu Kohäsionspolitik und marginalisierten Gruppen

Viele Kommunen in NRW kämpfen mit Problemen wie Armut und Arbeitslosigkeit. Das Grundrecht auf Zuwanderung steht unter besonderem Schutz. Freizügigkeit ist für jede und jeden ein Teil der persönlichen Freiheit und gleichzeitig von großem Wert für die deutsche Gesellschaft. Deshalb kämpfen wir für eine Willkommenskultur. Die Gewährleistung dieses Grundrechts bedeutet vor dem Hintergrund der sozialen Problemlagen vor Ort jedoch eine Herausforderung für die Kommunen. Die Gemeinden müssen für Unterkünfte, Schulen und soziale Leistungen viel Geld aufbringen. Dabei sind sie meistens auf finanzielle Hilfe angewiesen, auch auf Mittel der Europäischen Union. In der neuen Förderperiode 2014-2020 wird die EU ein Drittel ihres Haushalts, also ca. 350 Mrd. Euro für diese Zwecke einsetzen. Dabei stehen nun seit 2014 auch sogenannte marginalisierte Gruppen im Fokus: Randgruppen in großer Armut und Chancenlosigkeit, wie beispielsweise Sinti und Roma. Diese Gruppen sollen nun in die langfristige Planung der Antragsteller*innen für Mittel aus den EU-Fonds aktiv einbezogen werden. Das umfasst die Beschlüsse der Partnerschaftsverträge mit der EU, die Planung der operationellen Programme und auch die Umsetzung dieser Programme.

IMG_0525Terry arbeitet als Grünes Mitglied des Europaparlaments an einem Initiativbericht, der offenlegen soll, wie es um die Integration von Randgruppen in die Beschlüsse zur Nutzung der EU-Gelder bestellt ist. Um die Erfahrungswerte der Beteiligten, d. h. der kommunalen Verwaltungen auf der einen Seite und der Selbstorganisationen (bspw. organisierte Sinti- und Roma-Verbände) auf der anderen in ihre Arbeit einfließen zu lassen, war Terry am 26. Januar 2015 in Nordrhein-Westfalen unterwegs.

Der Tag begann mit einem Besuch in der Gesamtschule in Gelsenkirchen-Ückendorf, einem Stadtteil, den man als sogenannten sozialen Brennpunkt bezeichnen könnte. Die Schule leistet dort prinzipiell gute pädagogische Arbeit zur Integration von Schüler*innen und hat auch stark mit Zuwanderung aus anderen EU-Ländern und dem Zuzug von Flüchtlingen in Gelsenkirchen zu tun. Von den 55 internationalen Förderklassen in Gelsenkirchen sind fünf dort angesiedelt. Die Klassen dienen dazu, junge Menschen auf den Übergang in Regelklassen vorzubereiten und die Schüler*innen sollen nach spätestens zwei Jahren in reguläre Schulklassen wechseln. Im optimalen Fall wäre dies sogar in Form eines fließenden Übergangs möglich, also zunächst in einzelnen Fächern, die ein*e Schüler*in besonders gut beherrscht.

Bei dem Besuch wurden aber auch Probleme mit diesem Verfahren deutlich: Im Schnitt alle zwei Wochen ziehen so viele neue Kinder und Jugendliche nach Gelsenkirchen, um eine neue Förderklasse zu gründen, was natürlich für die Stadt Raumprobleme verursacht und dazu führt, dass auch der Einsatz von Lehrer*innen dem Trend hinterher hinkt. An der Gesamtschule Ückendorf werden die fünf Klassen von vier Lehrer*innen betreut. Aber auch der Übergang wird zu einem Problem, denn vor allem in den Klassenstufen 7-9 sind die Klassenstärken der regulären Klassen bereits so gut gefüllt, dass die Integration der neuen Schüler*innen an der gleichen Schule teilweise unmöglich ist oder dazu führt, dass der Klassenverband der Stufe komplett neu aufgebaut werden muss.

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Abseits dieser Probleme hat der Besuch aber das hochmotivierte Vorgehen der Schule deutlich gemacht. Bei einem Besuch von zwei Schulklassen konnte Terry beobachten, wie engagiert die Schüler*innen sich mit der deutschen Grammatik beschäftigten. Ob nun Konjugieren von unregelmäßigen Verben und eine Diskussion über Europa in der fortgeschrittenen Klasse oder Logikrätsel und freies Beschreiben der eigenen Person und der Hobbys in einer Einstiegsklasse – engagierte Lehrer*innen führen zu motivierten Schüler*innen. Auch Abseits des Unterrichts wird dort einiges zur Eingliederung der Schüler*innen getan. Vor allem der Sport bietet eine Möglichkeit, die verschiedenen Gruppen an der Schule zusammenzuführen.

Am Nachmittag fand in Zusammenarbeit mit den Grünen Landtagsabgeordneten Jutta Velte, Sprecherin für Integrationspolitik, und Stefan Engstfeld, dem europapolitischer Sprecher der Fraktion, ein Fachgespräch mit dem Titel des Initiativberichts „Kohäsionspolitik und marginalisierte Gruppen“ im Düsseldorfer Landtag statt.

Nach der Begrüßung durch Jutta Velte, die hervorhob, dass die bessere Integration marginalisierter Gruppen in die verschiedenen politischen Arbeitsfelder – und so auch in die Vergabe von EU-Fördergeldern – ein zentrales Anliegen einer auf Diversity und Antidiskriminierung ausgerichteten Integrationspolitik ist, führte Terry in das Thema des Initiativberichtes ein und machte deutlich, dass dieses Gespräch eine große Bedeutung für den weiteren Arbeitsprozess haben würde. Romeo Franz, der 2014 als Sinto für die Grünen auf Platz 12 der Liste zum Europaparlament kandidiert hat und nun Geschäftsführer der Hildegard-Lagrenne-Stiftung für Bildung, Inklusion und Teilhabe von Sinti und Roma in Deutschland ist, machte deutlich, dass die Frage der Inklusion von Sinti und Roma nicht unabhängig von Diskriminierungsverhältnissen, Stereotypen und Pauschalisierungen diskutiert werden dürfe. Die lange Verfolgungs- und Ausgrenzungserfahrung müsse berücksichtigt werden.

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In den folgenden zwei Expert*innenrunden diskutierten dann zunächst Vertreter von Sinti- und Roma-Verbänden bzw. der kommunalen Verwaltungen über die konkrete Frage der Einbindung in Förderstrukturen. Sami Dzemailovski, der als Projektleiter der Otto-Brenner-Stiftung das Projekt MIGoVITA betreut, verwies in seinem Vortrag auf die hohen bürokratischen Hürden der Antragstellung. Insbesondere für ehrenamtliche Teams seien diese ein Problem. Darüber hinaus erfolge die Ansprache der Selbstorganisationen nicht institutionalisiert, sondern höchstens informell, und in der Regel würden Gelder „für“ Roma beantragt, jedoch über die Köpfe der Betroffenen hinweg. Oswald Marschall, der als Vorstandsmitglied im Zentralrat der Sinti und Roma jährlich mehrere Fahrten in Roma-Viertel auf dem Balkan unternimmt, berichtete von Geldern, die bewilligt würden, aber bei den Betroffenen überhaupt nicht ankämen. Vorurteile über die Lebensweise der Roma-Community seien weit verbreitet und verhinderten sachgerechte Hilfe.

In der zweiten Runde kamen Manfred Beck, Dezernent in Gelsenkirchen, sowie Christine Roddewig-Oudnia, Leiterin des Kommunalen Integrationszentrums in Wuppertal, zu Wort. Sie berichteten über die Arbeit  vor Ort und die Anstrengungen der Gemeinden, allen Zuwanderer*innen und Flüchtlingen gleiche Chancen zu geben. Dabei ging es vor allem um Schulbildung, Ausbildung und Gesundheitsfragen. Beide erläuterten, dass bei der Erfassung der Zuwanderung keine Differenzierung nach Ethnien vorgenommen wird, sondern nur nach Herkunftsland. Einerseits sei dies wichtig, um gerade ethnische Diskriminierung auszuschließen, andererseits sei damit ein besonderer Fokus auf ethnisch oder kulturell bedingte Unterschiede nicht möglich. Ebenso wiesen sie daraufhin, dass die Förderpolitik zwischen Drittstaatsangehörigen und EU-Zuwanderer*innen unterscheide, was aber in der Praxis quasi unmöglich einzuhalten sei. Es sei beispielsweise nicht sinnvoll, Sprachkurse für beide Gruppen getrennt anzubieten.

Beide waren überzeugt, dass Integrationspojekte nur gelingen können, wenn sie auf Augenhöhe mit allen Beteiligten erarbeitet und durchgeführt werden. Es wurde auch vielfach darauf hingewiesen, dass die bürokratischen Hürden bei der Antragsstellung für Fördergelder der EU für kleine Gemeinden und Vereine zu hoch seien. Oft scheiterten Projekte an zu hoher geforderter Eigenbeteiligung und den Gemeinden sei es oft nicht möglich, diese aufzubringen.

Das Treffen war für alle Beteiligten sehr informativ. Der Erfahrungsaustausch ist für die Arbeit im Europäischen Parlament sehr wertvoll.