ThemenEuropa
19. Oktober 2015

„Fluchtursachen bekämpfen? Na dann los, liebe EU!“

Die EU strebt eine enge Kooperation mit dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan in der Flüchtlingspolitik an. Hierzu hat sich Terry in einem Gastbeitrag geäußert, der zuerst im Handelsblatt erschienen ist:

Auf einer Friedensdemo explodieren zwei Bomben. 128 Tote und Hunderte Verletzte, unter ihnen viele junge Friedensaktivisten aus Oppositionsparteien, Gewerkschaften und Zivilgesellschaft. Die PKK erklärt einseitig Waffenruhe, doch das türkische Militär fliegt trotz Staatstrauer weiter Angriffe auf PKK-Stellungen im Osten der Türkei.

Der Ausbruch eines Bürgerkriegs scheint allein eine Frage der Zeit. Für Europa gibt es nun eine konkrete Chance, ein Handlungsfenster, das nicht ungenutzt bleiben darf: Bevor sich der Konflikt in der Türkei zu einem handfesten Bürgerkrieg entwickelt, muss die EU einschreiten.

Doch die Türkeipolitik der EU und ihrer Mitgliedsstaaten steht unter anderem Vorzeichen. In den vergangenen Wochen ist vor dem Hintergrund steigender Flüchtlingszahlen immer wieder darauf gedrängt worden, „Fluchtursachen zu bekämpfen“ – auch und vor allem von Angela Merkel und Jean-Claude Juncker. Gleichzeitig hat die EU Recep Tayyip Erdogan zu einem Schlüsselpartner ernannt. Wer soll uns denn sonst die Flüchtlinge vom Hals halten?

Derzeit sind knapp zwei Millionen syrische Flüchtlinge in der Türkei registriert. Flüchtlinge, die die Mitgliedsstaaten der EU nicht aufnehmen wollen. Zwei Millionen Menschen, die eine Zukunft in der Türkei bekommen sollen – so ist zumindest die offizielle Linie der europäischen Institutionen.

Diese Flüchtlinge von der Einreise in die EU abzuhalten (auch mit Erdogan als „Schlüsselpartner“) scheint derzeit die alleinige Maßgabe europäischer Türkeipolitik zu sein. Dabei übersieht sie, wie die Türkei selbst zu einer Fluchtursache zu werden droht.

Bei Anschlägen, in Kämpfen und bei Angriffen durch das Militär sind in den letzten Monaten Hunderte Menschen ums Leben gekommen. Erdogan und seiner AKP kommt dieses Chaos vor den Parlamentswahlen am 1. November durchaus gelegen, will er doch einen Wiedereinzug der HDP um alles in der Welt verhindern. Deren Vorsitzender Selahattin Demirtas hat die Situation durchaus richtig beschrieben: Alle in der Türkei, die AKP wählen, sind Bürger.

Alle, die das nicht tun, sind Untertanen. Erdogan hat sie zu Staatsfeinden erklärt, die es zu bekämpfen gilt – mit allen Mitteln. Zu glauben, eine solche Politik könne die Türkei und die Region stabilisieren, ist nicht nur naiv, sondern brandgefährlich. Deshalb müssen wir Erdogan das Heft des Handelns aus der Hand nehmen.

Wir müssen Erdogan die Definitionsmacht nehmen. Es leben nämlich auch 18 Millionen Kurdinnen und Kurden in der Türkei. Eine nicht unerhebliche Zahl anderer Minderheiten, Lesben, Schwule, Trans- und Intersexuelle, Armenier, regierungskritische Journalisten, Oppositionelle, Aleviten. Sie sind Ziel von Repressionen, von Verfolgung und von Gewalt. Diesen Menschen aber darf eine friedliche, gleichberechtigte Zukunft in der Türkei nicht verbaut werden. Doch ein Bürgerkrieg würde genau dies bedeuten.

Wenn wir Ernst machen wollen mit einer EU, die Fluchtursachen bekämpft, muss sich viel ändern: In der Handelspolitik, bei der Fischerei und in der Landwirtschaft, in der Sicherheits- und Außenpolitik. Aber jetzt gerade brauchen wir eine Türkeipolitik, die nicht auf Flüchtlingsabwehr, sondern auf die Wahrung von Menschenrechten, auf Frieden und Verständigung setzt.

Die türkische Regierung ist auf die Unterstützung aus Europa angewiesen. Die EU, und auch ihre Mitgliedstaaten, müssen ihre Verhandlungsposition nun verantwortlich nutzen. Wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel am Wochenende in die Türkei reist, darf sie sich nicht von der Versuchung leiten lassen, das innenpolitische Raunen in den eigenen Reihen durch einen schmutzigen Deal mit Erdogan zu beantworten. Es wäre den viel gerühmten europäischen Werten unwürdig.