ThemenEuropa
7. Juli 2016

Grüne Antworten auf den Brexit: Aufbruch ist die beste Verteidigung

Der Brexit zeigt, wie gefährlich es ist, die EU für nationale Probleme verantwortlich zu machen. Was wir jetzt brauchen, ist Entschlossenheit in der Auseinandersetzung mit Rechtspopulist/innen, ein echtes Investitionsprogramm und mehr Leidenschaft für ein demokratischeres Europa.

Das Ergebnis des Referendums in Großbritannien ist ein trauriger Rückschlag für das Integrations- und Zivilisationsprojekt Europäische Union. Die EU steht nun vor einer extremen Herausforderung und tiefen Krise, deren Ausgang und Verlauf noch in weiten Teilen unklar ist. Eine erste Analyse der Zahlen legt eine extreme Polarisierung und tiefe Gräben der britischen Gesellschaft offen: 51,9 Prozent stimmten für den Austritt. Jedoch stimmten 64 Prozent der Wählerinnen und Wähler zwischen 18 und 24 Jahren für den Verbleib.

Menschen mit einem geringeren Bildungsabschluss haben tendenziell eher für den Austritt gestimmt; 45 Prozent der Menschen mit Universitätsabschluss für den Verbleib. Zwei Drittel derjenigen, die sich vornehmlich als Englisch beschreiben, waren für den Ausstritt (79 Prozent). Schottland hat mit 62 Prozent für den Verbleib gestimmt. In Nordirland haben 54 Prozent der Menschen dafür gestimmt in der EU zu bleiben.

Die Austrittsentscheidung ist einerseits die Konsequenz eines zugespitzten Wahlkampfs, in dem mit Angst – teilweise sogar Hetze – und der Verzerrung von Fakten gearbeitet wurde. Pro-europäische Argumente verfingen andererseits nur selten. Die EU wurde nicht nur für alle möglichen Probleme zum Sündenbock gemacht, sondern als Vehikel für eine polarisierende, nationalistische und chauvinistische Kampagne instrumentalisiert. In vielen anderen EU-Mitgliedsstaaten fallen ähnliche Argumente auf fruchtbaren Boden und EU-Skepsis wird salonfähig.

Wie können nun Grüne Antworten auf das Referendum aussehen?

Entschlossen gegen Rechtspopulist/innen und Nationalist/innen stellen

Mit der hochgerüsteten Sprache, der Hetze und populistischen Argumenten hat die Brexit-Kampagne Rechten in ganz Europa weiteren Auftrieb gegeben. Cameron ist den Populist/innen in Großbritannien jahrelang hinterhergerannt, hat selbst die EU für alle mögliche Übel verantwortlich gemacht und muss nun mit den bitteren Konsequenzen leben. Das zeigt, dass es nicht aufgehen wird, populistische Argumentationen aufzugreifen und ganze politische Diskurse nach rechts zu verschieben.

Der Brexit macht also deutlich: Es ist nicht nur verführerisch für nationale Politiker/innen, die EU für jegliche nationalen Probleme verantwortlich zu machen, es ist auch brandgefährlich. Aus diesen Fehlern sollten nicht nur die Staats- und Regierungschef/innen lernen, sondern alle verantwortungsbewussten Politiker/innen. Blindes EU-Bashing zur innerpolitischen Profilierung ist unverantwortlich und hilft am Ende nur denen, die Separation vor Integration stellen. Politische Kritik sollte ehrlicher und differenzierter formuliert und klargemacht werden, wer der/die wirkliche Adressat/in dieser Kritik ist.

Für uns Grüne ist Teil dieses Streits, klar aufzuzeigen, wo die Europäische Union liefern kann. Denn sie gewinnt dort an Legitimation, wo positive Veränderungen für Unionsbürger/innen spürbar werden.

Ein echtes Investitionsprogramm

Das tragische Problem der Union ist, dass die konkreten Vorteile oft nicht sichtbar sind und immer wieder erklärt werden müssen. Oft erreichen sie auch nur einen gewissen Teil der Bevölkerung. Die ohnehin schon „Abgehängten“ können von Freizügigkeit oder anderen erlebbaren Vorteilen wirtschaftlich nicht genügend profitieren. Die Hetze von Rechtspopulist/innen instrumentalisiert „Verlierer/innen“ der Globalisierung und Modernisierung und baut auf das Gefühl des Abgehängtseins, ohne dass sie eigene Verbesserungen anbieten (müssen). Der Rückzug in das nationale Kämmerlein erscheint damit oft als einfache und nachvollziehbare Lösung.

Die Staats- und Regierungschefs müssen nun aufzeigen, dass die EU auch jetzt lösungsorientiert arbeiten kann und handlungsfähig ist. Denn viel zu oft hat man – auch unter der Regierungspolitik von Angela Merkel – den Eindruck gewinnen können, dass man nicht gewillt sei, gemeinsame Probleme auch gemeinsam lösen zu wollen.

Um das Vertrauen in die EU und ihre Politik zu stärken gibt schon jetzt ganz konkrete Antworten, die wir von europäischere Ebene geben können und sollten: Wir brauchen zum Beispiel ein echtes Investitionsprogramm in die Zukunft der EU und wir sollten eine faire und transparente gemeinsame Steuerpolitik vorantreiben. Hier kann die EU ganz konkret liefern und einen positiven Unterschied für Unionsbürger/innen machen. Um diese Schritte zu gehen, muss es jetzt darum gehen, für andere Mehrheitsverhältnisse in den Mitgliedstaaten zu kämpfen. Das Nicht-Liefern der EU in vielen Fragen ist nicht allein ein strukturelles Problem der Europäischen Union, sondern liegt an den Mehrheitsverhältnissen im Europäischen Rat. Das müssen wir noch deutlich stärker als bisher herausarbeiten und kommunizieren.

Weitere Demokratisierung der Europäischen Union

Es sollte zudem klarer werden, dass die EU nicht nur Frieden und Sicherheit gewährleistet, sondern auch auf dem Versprechen von Wohlstand und Demokratie gründet. Ein soziales Europa sollte daher ein zentraler Bestandteil unserer Antwort auf den Ausgang des Referendums sein. Egal ob in Barcelona, Bielefeld oder Budapest: Die EU ist nicht nur Binnenmarkt, sondern muss stärker zu einem Garanten für mehr Gerechtigkeit und Teilhabe wachsen.

Die Brexiteers haben die EU als undemokratisches Bürokratiemonster beschimpft, dessen Repräsentant/innen allesamt ungewählt sind. Dies spottet zwar der Realität, zeigt aber, dass das Gefühl einer Machtlosigkeit gegenüber europäischen Entscheidungsprozessen grassiert. Wir bleiben daher bei unserer Forderungen, dass es eine weitere Demokratisierung der EU und bessere Strukturen braucht. Wir brauchen eine bessere Repräsentation und eine bessere Einbindung der betroffenen Bürger/innen. Der Angst vor dem „Souveränitätsverlust“ begegnen wir am besten, wenn die EU-Bürger/innen sich im Europäischen Parlament gut vertreten wissen und Entscheidungen nachvollziehen können.

Mehr Leidenschaft für eine andere Politik

Die Stronger-in Kampagne zielte vor allen Dingen auf die Angst vor wirtschaftlichen Unsicherheiten und hohen Kosten eines Austritts. Weitere wirtschaftliche Argumente wie mehr Jobs und geringere Produktionskosten wurden herangezogen. Eine Frage, die wir uns jetzt also stellen müssen: Reicht das? Reicht es, die EU zu verteidigen, indem wir vorrechnen, dass es ohne sie noch schlechter wäre?

Wir glauben: Nein, das ist nicht genug. Es ist längst überfällig, dass wir europäische Debatten mit viel mehr Leidenschaft und Engagement führen.

Als Grüne sind wir davon überzeugt, dass unsere Vorstellung davon, wie Umweltpolitik aussehen sollte, wie wir eine gerechtere Gesellschaft gestalten wollen oder wie wir uns für eine friedlichere Welt einsetzen können, besser auf europäischer Ebene umgesetzt werden kann. Ein Klimaschutzgesetz in Deutschland reicht nicht. Sanktionen gegen Russland von der polnischen Regierung würden zu wenig einen Unterschied machen. Wenn die linke Regierung in Portugal Steuerschlupflöcher schließt, genügt das noch lange nicht um internationalen Firmen ihre Möglichkeiten zur Steuervermeidung zu nehmen. Wer einen Gestaltungsanspruch hat für eine offene, gerechtere, demokratischere Gesellschaft, der muss dafür auf europäischer Ebene streiten.

Dazu müssen wir die politische Auseinandersetzung mit den anderen Parteien und Akteur/innen in den Arenen der europäischen Institutionen suchen. Es gilt, darum zu ringen, wie wir die Europäische Union verändern wollen. Wenn wir es schaffen, die EU-Bürger/innen in diesen Auseinandersetzungen mitzunehmen und sie tatsächlich einzubinden, können wir der um sich greifenden EU-Skepsis etwas entgegensetzen.

Europa, vergiss deine Jugend nicht! Liebe Jugend, vergiss Europa nicht!

Dass vor allem junge Menschen für einen Verbleib in der EU gestimmt haben, ist ein positives Signal und zeigt, dass die Jugend sehr wohl die Vorteile einer EU-Mitgliedschaft sehen. Junge Menschen wollen Teil des Integrationsprojekts sein, sie wollen im europäischen Ausland studieren und lernen, anderen Menschen kennenlernen und Freunde gewinnen, sich neue Sprachen aneignen und vielleicht sogar in einem anderen Land arbeiten. Kurzum: Sie sehen ihre Zukunft in der Europäischen Union und wollen die europäische Idee leben.

Diesen jungen Menschen wollen wir eine europäische Perspektive bieten und sie für ein gemeinsames Europa begeistern. Deshalb müssen wir jetzt schauen, wie es uns gelingen kann, jungen Britinnen und Briten trotz Brexits die Chance auf ein Leben in und Erleben von Europa zu ermöglichen. Die britische Jugend verlässt die EU gegen den eigenen Willen. Sie muss politischer, hör- und sichtbarer werden und nun ihrer Chance im geeinten Europa erkämpfen. Wir wollen dabei ihre Partner/innen sein.

Egal ob es darum geht, die Herzen der Unionsbürger/innen für die EU zu erobern, wir für konkrete politische Veränderungen kämpfen, oder uns den Rechtspopulist/innen und Nationalist/innen entgegen stellen, überall gilt: Aufbruch ist die beste Verteidigung.

Dieser Beitrag ist zuerst am 29. Juni 2016 bei der Heinrich Böll Stiftung erschienen. Die Co-Autor*innen Anna Cavazzini und Stephan Bischoff sind die Co-Sprecher*innen der Bundesarbeitsgemeinschaft Europa von Bündnis 90/Die Grünen, der gemeinsame Beitrag mit Terry ist Teil Dossiers der HBS zum Brexit.