19. August 2015

Von Tränengas und Regenbogen (DE/EN)

See English version below.

Wir waren zur Pride Week in Istanbul, um uns einen Eindruck der demokratischen Entwicklung der Türkei nach den Wahlen zu verschaffen. Am Ende stand ein massiver Polizeieinsatz gegen LGBT-Aktivist*innen, der Konsequenzen haben muss. Ein politischer Reisebericht.

Von Terry Reintke und Felix Banaszak

Seit 2003 gehen in Istanbul Lesben, Schwule, Bi-, Inter- und Transsexuelle, Transgender und queere Menschen auf die Straße, um für Menschenrechte zu demonstrieren. Eigentlich hätte es auch dieses Jahr eine wunderschöne Regenbogenparade werden können. Nachdem 2014 circa 60.000 Besucher*innen über die İstiklal Caddesi liefen, sollten es dieses Jahr bis zu 100.000 werden. Alles schien möglich, die Vorzeichen waren gut – gab es doch am Abend zuvor den ersten offiziellen LGBT-Empfang in der Geschichte Istanbuls, zu dem Sedef Çakmak, die erste offen lesbische Stadträtin in der Türkei eingeladen hatte. Doch die Ernüchterung folgte prompt: Was als bunte Parade gedacht war, wurde zur Jagd der Polizei auf Aktivist*innen, Tränengas und Wasserwerfer inklusive.

IMG_0556Aber fangen wir von vorne an. Drei Wochen nach der Parlamentswahl war die Pride für uns ein gesetzter Termin, um die LGBT-Community in der Türkei zu unterstützen. Gleichzeitig wollten wir sie aber auch für eine erste Bestandsaufnahme der aktuellen Veränderungen in der türkischen Politik und Gesellschaft nutzen. Also trafen wir uns in den Tagen vor der Parade mit LGBT-Aktivist*innen, mit Vertreter*innen der oppositionellen HDP, den türkischen Grünen und mit Journalist*innen.

IMG_0528IMG_0497Die über allem schwebende Frage war stets: Wie geht es nun weiter nach den Wahlen und dem Verlust der absoluten Mehrheit von der vormals autoritär regierenden AKP? Nachdem die Gezi-Proteste im Jahr 2013 die tiefe politische Spaltung der Türkei offengelegt haben und die Opposition zu Erdoğans zunehmend autokratischem Agieren sichtbar wurde, bahnte sich der Protest mit dem Einzug der HDP in die Große Nationalversammlung der Türkei nun auch seinen parlamentarischen Weg. Ein Hauch von Optimismus und Veränderung lag in der Luft.

Und am Samstagabend gab es auch gleich einen Grund zum Feiern, denn Sedef Çakmak ist vor einiger Zeit als erste offen lesbische Stadträtin in der Türkei in den Rat des Istanbuler Bezirks Beşiktaş nachgerückt. Nun war sie Gastgeberin des ersten offiziellen LGBT-Empfangs in der Geschichte des Landes. Die Hoffnung, dass der Kampf für gleiche Rechte trotz all der Strapazen gewonnen werden kann, lag in der Luft. Umso beschwingter machten wir uns am Sonntag deshalb auch auf den Weg in Richtung Taksim-Platz, wo die Pride beginnen sollte.

11055299_10153356999473563_753160344760512602_oIMG_0604Dann ging alles Schlag auf Schlag: Gerade einmal eineinhalb Stunden vor ihrem geplanten Beginn wurde die Pride verboten. Uns war klar, dass diese Maßnahme bewusst zur Eskalation beitragen sollte, denn immerhin waren viele Teilnehmer*innen bereits auf dem Weg zur Pride oder sogar schon vor Ort. Wir versuchten, über die Delegation der Europäischen Union vor Ort zu erreichen, dass die Pride stattfinden kann. Aber der Istanbuler Gouverneur blieb hart und ließ die Polizei aufmarschieren. Jetzt war klar: So entspannt würde dieser Nachmittag nicht mehr werden.

Felix:

IMG_0666IMG_0665Angekommen am Taksim-Platz verlor sich unsere Gruppe im Gedränge, sodass wir fortan in drei kleineren Gruppen unterwegs waren. Die Polizei sperrte die İstiklal ab und drängte einige Demonstrant*innen, unter anderem meine Begleiter*innen und mich, auf eine Nebenstraße. Hier konnten wir sogar zeitweise ausgelassen feiern und unsere Botschaften auf die Straße bringen. Es war eine riesige Kraft zu spüren. Verglichen zu den teilweise arg kommerzialisierten CSD-Paraden in Deutschland überwogen hier bunte Fahnen und laute Sprechchöre. Aber jeder Versuch, wieder auf die İstiklal zu kommen, wurde von der Polizei unterbunden. Wir gerieten in Wasserwerfer- und Tränengas-Attacken der Polizei, später waren wir zwischenzeitlich in Nebenstraßen eingeschlossen. Max Lucks aus dem GRÜNE-JUGEND-Bundesvorstand, der mit mir unterwegs war, beschreibt seine Eindrücke hier.

Terry:

11038922_868892246524804_7837744785017690891_n11659506_868892143191481_1051652283734748907_nMit Gönül Eğlence, der Grünen Kandidatin für das Amt der Bürgermeisterin in Essen, und Menekşe Kizeldere von der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul bekam ich durch meinen Abgeordnetenausweis Zutritt auf die İstiklal, als die Attacken der Polizei losgingen. Nach einer Odyssee durch Tränengaswolken in den engen Seitenstraßen der İstiklal gelang es uns, zu einer Pressekonferenz von HDP- und CHP-Abgeordneten auf dem Taksim-Platz zu gelangen. Nachdem die politischen Statements beendet waren, kam die Ansage: „Die Abgeordneten werden losgehen. Wenn die Polizei dies zu verhindern gedenkt, ist das ihre Entscheidung.“ Erst an dem Punkt wurden die Polizisten (sic!) sichtlich unruhig. Sollten vor den Augen der Presse – mit dutzenden Kameras vor Ort – Parlamentsabgeordenete und Aktivist*innen angegriffen werden, um sie vom Losziehen abzuhalten? Schlussendlich obsiegte die Vernunft. Als wir losgingen, öffneten sich die Polizeiketten und die Wasserwerfer wurden zur Seite gefahren, sodass der Zug unter dem tosenden Beifall der Zuschauer*innen aus den Fenstern die Freiheitsstraße herunterziehen konnte. Und Gönül flüsterte mir zu: „Und das ist doch alles, was die Leute wollten.“

Felix:

IMG_0941Irgendwann gelang es auch unserer Gruppe, auf die İstiklal vorzustoßen. Kurz sah es so aus, als gäbe es noch ein gutes Finale: Ein größerer Demonstrationszug konnte nun endlich dort entlangziehen, wo es ursprünglich auch geplant war. Allzu lange sollte dies nicht andauern. Nach einiger Zeit kamen Polizeitrupps und bahnten sich den Weg. Absurde Szenen von schnell hin- und herfahrenden Wasserwerfern, die wahllos in die Menge spritzten. Und immer das beißende Tränengas in Augen, Mund und Nase.

Schließlich trafen wir uns alle am Galataturm und machten uns auf den Weg zur Party. Denn selbst nach einem für uns alle erschöpfenden Tag wollten wir unsere Rechte feiern. Wenige Minuten gab es Szenen euphorischen Tanzens – allerdings mit Mundschutz, denn das Tränengas war noch immer in der Luft. Plötzlich rannten die Menschen wild weg, weil ein Wasserwerfer versuchte, in die enge Seitenstraße vorzudringen, in der die Party stattfand. Allein die Enge konnte ihn stoppen.

IMG_0848IMG_0985Nun geht es darum, die Vorkommnisse politisch aufzuarbeiten. Diese klägliche Machtdemonstration Erdogans wenige Wochen nach der Parlamentswahl muss ein Nachspiel haben. Zu Recht müssen er und seine AKP befürchten, ihre autoritäre Herrschaft fortan nicht mehr ohne Gegenwehr durchsetzen zu können. Doch auch massive Gewalt kann den demokratischen Aufbruch nicht behindern. Im Vergleich zu anderen, brutalen Polizeieinsätzen der vergangenen Jahre steht die Türkei jetzt an einem anderen Punkt. Die Opposition lebt, und die Ereignisse der Pride werden dazu beitragen, den ungebrochenen Mut der Zivilgesellschaft zu stärken. Diese progressiven Kräfte brauchen Unterstützung aus ganz Europa.

11698910_10153357001848563_7798574772305228298_oWir haben deshalb gemeinsam mit Ska Keller eine schriftliche Anfrage an die EU-Kommission gestellt. Wir wollen wissen, was die Europäische Union vor dem Hintergrund dieser Vorkommnisse tut, um LGBT-Rechte in der Türkei zu schützen. Von der Antwort erhoffen wir uns nicht nur mehr Klarheit, sondern auch einen Anstoß, dass die Europäische Union eine aktivere Rolle in der Unterstützung des demokratischen Aufbruchs in der Türkei einnimmt. Dazu gehört auch, die Kapitel 23 und 24 der Beitrittsverhandlungen zu öffnen – also die Gespräche über Justiz und Grundrechte bzw. Justiz, Freiheit und Sicherheit. Es muss eine europäische Perspektive für die emanzipatorischen Kräfte im Land geben.

Dieses Wochenende hat gezeigt, dass der Kampf für LGBT-Rechte ein mindestens europäischer, ja globaler Kampf ist. Wir sehen die Konservativen in ihrem Abwehrkampf und wir wissen um die Gefahr, die von ihnen ausgeht. Aber die Menschen auf den Straßen Istanbuls haben der Repression getrotzt und gefeiert. Und mit jedem Wasserwerfer, den sie auf uns richten, werden wir stärker, lauter und bunter.

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English version:

Of Tear Gas and Rainbow

We went to Istanbul for the Pride week in order to gain an impression of the democratic development of Turkey following the recent elections. At the end we were confronted with a massive police operation against LGBT-activists, which has to lead to consequences.
A political travel report.


By Terry Reintke and Felix Banaszak

Since 2003 lesbians, gays, bi-, inter-, transsexual, transgender and queer people go to the streets of Istanbul to protest for human rights. This year, it could have been a wonderful rainbow parade too. After approximately 60.000 visitors had marched on the İstiklal Caddesi in 2014, up to 100.000 were expected for this year. Everything seemed possible; the signs were good considering that just a day before the parade the first LGBT-reception ever in the history of Istanbul was hosted by Sedef Çakmak, the first openly lesbian city concillor of Turkey. The disenchantment, however, followed quickly: What was planned to be a colourful parade became a police hunt on activists including tear gas and water guns.

But first things first. Three weeks after the Turkish general elections we chose the pride as a date to show our support for the LGBT-community in Turkey. At the same time we wanted to form our own opinion on the current changes in Turkish politics and society. In order to do so we met with LGBT-activist, representatives of the oppositional party HDP, Turkish Greens and journalists in the days preceding the pride.

The omnipresent question for us was: What is going to happen now after the elections and the lost absolute majority for AKP that had formerly ruled Turkey in an authoritarian manner? After the Gezi protests in 2013 had unravelled the deep political division of Turkey and the opposition had been made increasingly visible by Erdoğans autocratic behaviour, the protest found its way into the Turkish National Assembly with the entry of HDP. Since then a hint of optimism and change was in the air.

On Saturday night there was already a reason to celebrate as Sedef Çakmak recently joined the district council of Beşiktaş as first openly lesbian city councillor of Istanbul and Turkey. Now she was the host of the first LGBT-reception in the history of the country. The hope that the fight for equal rights can be won despite all obstacles was in the air. So on Sunday we cheerfully walked our way to the Taksim place, where the pride was planned to start.

Then everything happened in a rush: Just 90 minutes before its scheduled start, the pride was banned. We knew for sure that this was a conscious effort to contribute to an escalation as many participants were already on their way or even had arrived by then. With the local delegation of the European Union we tried to revoke the ban and to make the pride happen. But Istanbul’s governor remained hard and ordered the police to intervene. Now it was crystal clear: This afternoon would not turn out to be as relaxed as we expected.

Felix:

When we arrived at the Taksim place our group was lost in the crowd so that we continued in three smaller groups. The police blocked the İstiklal and pushed some demonstrators including me and my companions into a side street. There we were actually able to celebrate and to bring our message to the street for some time. We could feel a huge power. Compared to the partially heavily commercialised CSD-pride-parades in Germany, the scene in Istanbul was dominated by colourful banners and loud speaking choirs. However, every undertaking to go back on the İstiklal was prevented by the police. We found ourselves in water gun and tear gas attacks and later we were even temporarily trapped in side streets.

Terry:

With my MEP badge I got access to the İstiklal when the police attacks started taking Gönül Eğlence, the Green cadidate for the mayor’s office in Essen, and Menekşe Kizeldere from the Heinrich-Böll-Foundation in Istanbul with me. Following the odyssey through tear gas clouds in the narrow side streets of the İstiklal, we managed to attend a press conference of HDP and CHP parliamentarians on the Taksim place. After the political statements had ended, the announcement came: „The Members of Parliament will start marching now. If the police intend to stop this, it will be their decision.“ Only from this point forward the police became obviously unsettled. Should they really attack Members of Parliament and activists under the eyes of the press – with a dozen of cameras present – in order to stop them from walking? In the end common sense prevailed. As we started marching the police chains opened and the water guns were put aside enabling the parade to move under the loud applause of spectators from windows in the Street of Freedom. And Gönöl whispered to me: „And this is simply all the people wanted.“

Felix:

At some point our group accomplished to reach the İstiklal. Briefly it seemed as if a good finale was about to happen: A greater stream of demonstrators was finally able to march, where it was originally planned. However, this was not meant to last for long. After a short time police troops came and fought their way through. Absurd scenes emerged of water guns driving fast from one spot to another shooting aimlessly at the crowds. And again and again the biting tear gas in eyes, mouth and nose.

Eventually we all met at the Galataturm and walked to the party. We wanted to celebrate our rights, even though we were exhausted from the day. For a few minutes we danced with euphoria – albeit with face masks as the tear gas was still in the air. All of a sudden people started running wildly in all directions because a water gun was trying to reach the side street we were in. Only the narrowness of the street was able to stop it.

Now we have to work on a political review of these events. This despicable power demonstration of Erdogan just a few weeks after the elections has to have consequences. Not without a reason he and his AKP have to fear that they will not be able to enforce their authoritarian rule without expecting defence. Even massive violence cannot hinder the democratic awakening in Turkey. In comparison to other brutal police operations of the last years, Turkey has reached a different point today. The opposition is alive, and the events of this pride will contribute to strengthen the unbroken courage of the civil society. These progressive forces need support from all over Europe.

Because of that we delivered a written question to the European Commission together with Ska Keller. We would like to know what the EU intends to do to protect LGBT rights in Turkey considering the recent events. We are not just expecting more clarity from this answer, but we hope that this will push the EU to take a more active role in the support of the democratic development in Turkey. This also means to open chapter 23 and 24 of the accession negotiations – meaning the debates over jurisdiction and human rights or jurisdiction, liberty and security. There has to be a European perspective for the emancipatory forces in the country.

This weekend has shown that the fight for LGBT-rights is a European one at least, and a global fight. We see the conservatives in their defensive fight and we know about the danger surrounding them. But the people on the streets of Istanbul defied repression and celebrated nevertheless. And with every water gun they direct at us we are growing stronger, louder and more colourful.