Warum die EU dringend gegen geschlechtsspezifische Gewalt vorgehen muss
Geschlechtsspezifische Gewalt ist eine der systematischsten und am weitesten verbreiteten Menschenrechtsverletzungen der Welt und forderte schon vor der Pandemie jedes Jahr Tausende von Menschenleben. Unter COVID-19 hat sie sich weltweit zu einer Schattenpandemie ausgeweitet. Es ist an der Zeit, dass die EU von leeren Worten zu konkreten Taten übergeht.
Eine von drei Frauen über 15 Jahren in der EU hat körperliche und/oder sexuelle Gewalt erlebt. Etwa die Hälfte aller Frauen in der EU hat sexuelle Belästigung erlebt. Für Menschen mit Behinderungen sind die Zahlen noch erschreckender. Es gibt Belege dafür, dass Mädchen und junge Frauen mit Behinderungen weltweit bis zu zehnmal häufiger Gewalt ausgesetzt sind als Menschen ohne Behinderungen.
Es gibt keine harmonisierten Daten über das Ausmaß von Femiziden – der geschlechtsspezifischen Tötung von Frauen und Mädchen – in Europa. Expert*innen von Women Against Violence Europe schätzen jedoch, dass die Zahl der Opfer bei über tausend pro Jahr liegt. Die Hälfte der getöteten Frauen wird von ihren Partnern oder Familienmitgliedern umgebracht.
Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt steigen bei jeder Art von Notfällen sprunghaft an: bei Konflikten, Wirtschaftskrisen, Naturkatastrophen und Krankheitsausbrüchen. Der wirtschaftliche und soziale Stress, der durch die COVID-Abriegelungsmaßnahmen verursacht wurde, hat bereits bestehende Probleme verschärft, indem er ein Umfeld für Kontrolle und Nötigungen ermöglichte. In Frankreich stiegen in den ersten Monaten des Lockdowns die Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt um 30%. Die Vereinten Nationen bezeichneten die tragische Wende der Ereignisse als „Schattenpandemie“.
Die Verfügbarkeit von öffentlichen Unterstützungsdienstleistungen blieb schon vor COVID weit hinter den Empfehlungen der Expert*innen zurück. Es besteht ein gravierender Mangel an spezialisierten Hilfestellungen für Überlebende sexualisierter Gewalt in Europa. In den EU-Ländern fehlen ca. 87% der Krisenzentren für Vergewaltigung oder Überweisungsstellen für sexuelle Gewalt, in den Nicht-EU-Ländern sind es 99%.
In ganz Europa werden die öffentliche Untersützungsstellen mit Hilferufen überhäuft. Daten des nationalen italienischen Statistikinstituts zeigen, dass die Anrufe bei einer Hotline in Italien im Jahr 2020 um +59 % im Vergleich zu 2019 gestiegen sind. In Griechenland erhielt eine staatliche Hotline in nur einem Monat nach der Schließung einen Anstieg von 230 %.
Die Opfer wurden von der Reichweite der normalen Unterstützungsdienste abgeschnitten. Unterkünfte für Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt stoßen an ihre Kapazitätsgrenzen oder sind aufgrund von Abriegelungsmaßnahmen oder Kürzungen ihrer Finanzierung nicht mehr in der Lage, neue Opfer aufzunehmen.
Da sich unser Leben in den Online-Bereich verlagert hat, sind auch neue Formen der Gewalt entstanden. Vor der Pandemie gab eine von zehn Frauen in der EU an, seit ihrem 15. Lebensjahr Cyber-Belästigung erlebt zu haben. Online-Gewalt in Form von physischen Drohungen, sexueller Belästigung, Stalking, Zoombombing, Deepfakes oder nicht einvernehmlichen pornografischen Inhalten haben diesen Raum für User*innen gefährlich gemacht.
Jede Erfahrung von geschlechtsbasierter Gewalt ist anders, und es ist wichtig, die verschiedenen Faktoren anzuerkennen, die bestimmte Gruppen von Personen anfälliger für Diskriminierung machen. Migrantinnen, Women of Colour, trans Frauen, indigene Menschen, Menschen mit Behinderungen, nicht-binäre Menschen sind besonders anfällig für Gewalt. Soziale Herkunft, Hautfarbe, Alter, Religion, Geschlechtsausdruck und -identität sowie viele andere Faktoren beeinflussen, wer wahrscheinlich geschlechtsbezogene Gewalt erfährt.
Als Ausdruck veralteter Geschlechterstereotypen betrifft geschlechtsspezifische Gewalt nicht nur cis Frauen, sondern jeden, der nicht den überholten Geschlechternormen entspricht. Trans Frauen und nicht-binäre Menschen und insbesondere nicht-weiße Menschen sind in drastischem Maße von Gewalt betroffen. Ihre Erfahrungen dürfen nicht untergraben werden.
Was kann die EU tun?
Die EU hat immer noch keine Richtlinie, die ihre Mitgliedsländer dazu verpflichtet, geschlechtsspezifische Gewalt zu beenden. Geschlechtsspezifische Gewalt bedroht die physische und psychische Integrität eines Menschen. Ein Leben frei von Gewalt ist ein grundlegendes Menschenrecht, das jedem Menschen zusteht.
Wir fordern nun die Europäische Kommission auf, unsere Sicherheit zu schützen und ihre Bemühungen zur Beendigung von geschlechtsspezifischer Gewalt zu verstärken und sich wirklich für den Schutz der Sicherheit aller Menschen einzusetzen.
Auch ihr könnt ein Zeichen senden, indem ihr unsere Petition unterzeichnet. Lassen wir die Kommission wissen, dass sie handeln muss. Die EU muss ihre Bemühungen verstärken, Gewalt von vornherein zu verhindert. Wir müssen die Straffreiheit für Täter beenden und denjenigen, die Gewalt überlebt haben, die notwendige Unterstützung und Gerechtigkeit gewährleisten.