16. Januar 2019

Anfrage an die Europäische Kommission: Kriminalisierung humanitärer Hilfe

Gemeinsam mit anderen Abgeordneten des Europäischen Parlaments stellte Terry eine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung an die Europäische Kommission bezüglich der Kriminalisierung humanitärer Hilfe.

Anfrage an die Kommission:

Die Stadt Riace in Italien ist zu einem beispielhaften Projekt zur Integration von Migranten geworden. Ihr Bürgermeister, Domenico Lucano, hat ein Modell des Zusammenlebens für Flüchtlinge und örtliche Gemeinschaften geschaffen, mit dem die Bevölkerung und die Wirtschaft der Stadt neu belebt wurden. In dieser Woche wurde er unter dem Vorwurf der Beihilfe zur illegalen Einwanderung festgenommen.

Dass Sanktionen gegen Menschen, die humanitäre Hilfe leisten, eskalieren und sie eingeschüchtert werden, wird derzeit europaweit zu einem alarmierenden Trend. Mit dem Schleuser-Paket der EU (Richtlinie 2002/90/EG und Rahmenbeschluss 2002/946/JI) wird angestrebt, in einem Rahmen, der sich durch Rechtsunklarheit und Rechtsunsicherheit auszeichnet, die Mitgliedstaaten dazu zu zwingen, strafrechtliche Sanktionen für eine große Bandbreite an Verhaltensweisen zu verhängen. Artikel 1 Absatz 2 der Richtlinie, in dem eine bloße unverbindliche Option für die Mitgliedstaaten vorgesehen ist, bei „humanitärer Unterstützung“ eine Ausnahme von der Kriminalisierung anzuwenden, gilt nicht für Fälle der Beihilfe zu irregulärem Aufenthalt. Diese Rechtsunsicherheiten werden dadurch verschärft, dass auf ihr Verhältnis zu einschlägigen internationalen und regionalen Menschenrechtsinstrumenten, die für Vertragsstaaten rechtliche Verpflichtungen enthalten und vielfach zur Unterstützung von Hilfsbedürftigen auffordern, nicht eingegangen wird.

1)         Wie beabsichtigt die Kommission, die aktuellen Rechtsvorschriften zu reformieren, um größere Klarheit und Einheitlichkeit zu erreichen, indem sie genau angibt, welche Formen der Beihilfe von den Mitgliedstaaten nicht kriminalisiert werden sollten?

2)         Beabsichtigt die Kommission, für „humanitäre Unterstützung“ eine verpflichtende Ausnahme aufzunehmen?

Jetzt haben wir die folgende Antwort von Herrn Avramopoulos im Namen der Europäischen Kommission erhalten:

In der Bewertung des Beihilfe-Pakets[1] hat die Kommission festgestellt‚ dass die – keinesfalls zu unterschätzenden – Gefahren einer Kriminalisierung der humanitären Hilfe nicht durch das geltende Recht selbst, sondern durch seine Auslegung und Anwendung ausgelöst werden. Weiter hat sie bei dieser Bewertung festgestellt, dass zwischen dem Völkerrecht und dem EU-Recht keine rechtlichen Diskrepanzen bestehen, sondern die mangelnde Klarheit wahrscheinlich der Tatsache geschuldet ist, dass aus den verschiedensten Situationen heraus geholfen wird und deshalb jeweils unterschiedliche Rechtsrahmen gelten.

Nach den nationalen Strafrechtsordnungen sind  in einer Notsituation begangene Handlungen  gewöhnlich von der strafrechtlichen Verfolgung befreit, und Personen in Seenot zu helfen, ist eine völkerrechtliche Pflicht. Wegen Rettung von Menschenleben aus Seenot darf niemand kriminalisiert werden, weder nach europäischem noch nach nationalem Recht. Weiter gilt die Ausnahmeklausel des Artikels 1 Absatz 2 der Richtlinie 2002/90/EG[2] zur Definition der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt nicht für die Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt nach EU-Recht: letztere ist nur dann unter Strafe gestellt, wenn sie zur Erzielung eines finanziellen Vorteils geleistet wird (Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie 2002/90/EG).

Im Mai 2018 hat die Kommission den Dialog mit einschlägigen Nichtregierungsorganisationen[3] sowie der Agentur für Grundrechte aufgenommen und sie aufgefordert, sich auf dem Europäischen Informationsaustauschsystem (EMN-IES) zu registrieren, einer Online-Plattform, auf der einschlägige Erkenntnisse geteilt werden können. Bislang hat sich keine Organisation registrieren lassen. Die Kommission hat an einem von Eurojust organisierten Treffen zur Bekämpfung der Migrantenschleusung teilgenommen, bei dem dieses Thema mit den Staatsanwälten erörtert wurde.

Vor diesem Hintergrund bekräftigt die Kommission, dass detailliertere Informationen über die Umsetzung des Pakets auf nationaler Ebene eingeholt werden müssen, bevor die Opportunität einer Überarbeitung der Rechtsvorschriften geprüft werden kann.

 

[1]     SWD(2017) 117 final.

[2]     Richtlinie 2002/90/EG des Rates vom 28. November 2002 zur Definition der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt (ABl. L 328 vom 5.12.2002, S.17-18, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=OJ%3AL%3A2002%3A328%3ATOC.

[3]     Die „Plattform für internationale Zusammenarbeit betreffend Migranten ohne gültigen Aufenthaltstitel“ (PICUM), das „Zentrum für Europäische Politische Studien“ (CEPS), die „Gruppe Migrationspolitik“ (MPG), die Sozialplattform und „Ärzte ohne Grenzen“ (MSF).