15. Mai 2017

Entsandte Arbeitnehmer*innen müssen besser geschützt werden

Dieser Artikel erschien zuerst als Gastbeitrag von Terry Reintke in der online-Ausgabe der dbb europathemen aktuell vom DBB Beamtenbund und Tarifunion im Mai 2017.

 

Entsandte Arbeitnehmer*innen müssen besser geschützt werden

Unterbezahlt, entrechtet, schutzlos. Wöchentlich erreichen mich Meldungen über entsandte Arbeitskräfte, die den miesen Praktiken krimineller Geschäftsleute zum Opfer gefallen sind. Oftmals warten sie bereits wochen- oder gar monatelang auf noch immer ausstehende Lohnauszahlungen – in vielen Fällen jedoch vergeblich, weil sich die kriminellen Drahtzieher schon längst aus dem Staub gemacht haben. Weil sich entsandte Arbeitskräfte nur kurzfristig in einem anderen EU-Mitgliedstaat aufhalten und daher oftmals zum einen ihre Rechte nicht genau kennen und zum anderen die Sprache kaum sprechen, befinden sie sich in einer besonders schutzlosen Situation. Lücken und Grauzonen bei der Anstellung oder komplizierte Subunternehmerketten können kriminellen Geschäftsleuten dazu verhelfen, geltendes Recht zu umgehen und Mindeststandards bei der Arbeitszeit, bei der Sicherheit am Arbeitsplatz oder beim Kündigungsschutz zu unterlaufen. Die Europäische Union muss solchen Praktiken einen Riegel vorschieben und ausbeuterische Arbeitsverhältnisse über Grenzen hinweg bekämpfen. Außerdem muss die Arbeit, die entsandte Arbeitnehmer*innen unter erschwerten Bedingungen leisten, als wichtiges Puzzlestück in einem mehr und mehr zusammenwachsenden europäischen Binnenmarkt anerkannt werden. Dafür brauchen entsandte Beschäftigte auch faire Konditionen.

Wie funktionieren Entsendungen?

Wenn sich Arbeitnehmer*innen im Auftrag ihrer Arbeitgeber*innen in einen anderen EU-Mitgliedstaat begeben, um dort während eines begrenzten Zeitraums eine Dienstleistung zu erbringen, dann sprechen wir von einer Entsendung. Der Aufenthalt in dem anderen EU-Mitgliedstaat ist dabei immer eng mit der Erbringung einer bestimmten Dienstleistung verknüpft. Für Entsendungen spielen also zwei Faktoren eine entscheidende Rolle:

  1. Die*Der Arbeitnehmer*in hat den Auftrag, in einem anderem EU-Mitgliedstaat eine Dienstleistung zu erbringen.
  2. Der Aufenthalt in dem anderen EU-Mitgliedstaat ist zeitlich begrenzt.

Entsandte Arbeitnehmer*innen unterscheiden sich von mobilen Arbeitnehmer*innen insofern, als dass sie während ihrer Tätigkeit in einem anderen EU-Mitgliedstaat weiterhin bei ihrem Unternehmen im Herkunftsland beschäftigt bleiben und nicht dauerhaft auf dem Arbeitsmarkt des anderen EU-Mitgliedstaates tätig werden. Für entsandte Arbeitnehmer*innen gilt demnach weiterhin der bestehende Arbeitsvertrag mit ihrem Unternehmen im Herkunftsland und sie bleiben auch dessen System der sozialen Sicherheit angeschlossen.

Warum ist eine Revision der Entsenderichtlinie notwendig?

Entsendungen sind notwendig, um in einem immer weiter zusammenwachsenden europäischen Binnen- und Arbeitsmarkt Dienstleistungen erbringen und den Waren- und Dienstleistungsverkehr zwischen den EU-Mitgliedstaaten aufrechterhalten zu können. Allerdings hat sich der EU-Binnenmarkt in den letzten zwei Jahrzehnten seit der Verabschiedung der Entsenderichtlinie im Jahr 1996 rasant weiterentwickelt und dadurch enorm verändert. Es versteht sich von selbst, dass diesen Veränderungen nach und nach mit einer Anpassung rechtlicher Normen nachgekommen werden muss. Aus diesem Grunde ist auch eine Überarbeitung der Entsenderichtlinie sinnvoll, um den heute gegebenen Realitäten in der modernen Arbeitswelt gerecht zu werden.

Gleichzeitig lässt sich nicht leugnen, dass das Instrument der Entsendung viel zu häufig für kriminelle Praktiken missbraucht wird: Während entsandte Arbeitnehmer*innen oft monatelang ausgebeutet werden und letztlich ohne Lohnauszahlungen auf ihren Kosten sitzen bleiben, gelingt es kriminellen Geschäftsleuten immer wieder, sich ungestraft aus der Affäre zu ziehen. Es ist daher höchste Zeit, diesen kriminellen Machenschaften ein Ende zu bereiten und entsandte Arbeitnehmer*innen besser zu schützen.

Wie kann die Entsenderichtlinie verbessert werden?

Die Entsenderichtlinie hat den Zweck, entsandte Arbeitnehmer*innen zu schützen und ihnen mindestens dieselben Rechte zuzugestehen wie lokalen Arbeitnehmer*innen. Aber das reine Minimum ist eben nicht genug, wenn man beachtet, welchen Mehraufwand entsandte Beschäftige in Kauf nehmen müssen, die im Auftrag ihres Unternehmens eine Dienstleistung im Ausland erbringen: Neben der weiten Anreise, den oftmals deutlich höheren Kosten für die Verpflegung vor Ort und der häufig aus finanziellen Gründen vorgenommenen Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften, bezahlen sie ihren Einsatz im Ausland auch noch mit dem Preis der Entfernung von ihrer Familie sowie eines eingeschränkten Privatlebens. Diese Umstände führen deutlich vor Augen, weshalb entsandten Arbeitnehmer*innen dringend mindestens dieselben Rechte zugesprochen werden müssen, die auch für lokale Arbeitnehmer*innen in derselben Region oder derselben Branche gelten. Um die Situation entsandter Beschäftigter grundlegend zu verbessern, sollte im Rahmen der Revision der Entsenderichtlinie deshalb insbesondere ein Fokus auf die Umsetzung der folgenden drei Punkte gelegt werden:

  1. Erweiterung der Rechtsgrundlage. Die Rechtsgrundlage der Richtlinie, die sich lediglich auf die Dienstleistungsfreiheit stützt, muss um den Schutz von Arbeitnehmer*innen erweitert werden. Auf diese Weise wäre gewährleistet, dass im Hinblick auf zukünftige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes nicht mehr die Dienstleistungsfreiheit über den Schutz von Arbeitnehmer*innen gestellt werden kann, sondern ein angemessener sozialer Schutzes sowie die Bekämpfung sozialer Ausgrenzung sichergestellt werden müssen.
  2. Bessere Rechtsdurchsetzung in den EU-Mitgliedstaaten. Die Rechtssicherheit der Richtlinie muss gestärkt werden, um Schlupflöcher für ausbeuterische Geschäftsmodelle zu stopfen und die Verfolgung krimineller Arbeitgeber*innen zu verbessern. Im Falle von Scheinentsendungen darf den betroffenen Beschäftigten nicht der notwendige Schutz entzogen werden.
  3. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort. Entsandte Arbeitnehmer*innen müssen während ihres Aufenthalts in einem anderen EU-Mitgliedstaat einen Anspruch auf eine Entlohnung geltend machen können, die mindestens dem Niveau der dort beschäftigten Arbeitnehmer*innen entspricht.

Die zentrale Frage bei der Revision der Entsenderichtlinie ist, wie das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ verwirklicht werden kann. Um eine konsequente Umsetzung dieses Prinzips zu erreichen, muss dafür an zwei Stellschrauben gedreht werden:

  1. Der Begriff „Mindestlohnsätze“ muss durch den Begriff „Entlohnung“ ersetzt werden. Die geltende Richtlinie legt bisher fest, dass entsandte Arbeitskräfte ein Anrecht auf die im jeweiligen Mitgliedstaat geltenden Mindestlohnsätze haben. Doch diese allein sind nicht ausreichend, denn sie schließen zusätzliche Lohnbestandteile wie Prämien oder Zulagen für schwere Arbeit oder Feiertags- und Nachtarbeit aus. Damit entsandte Arbeitnehmer*innen von bestimmten Zuschlägen und Tagegeldern, Eingruppierungsbestimmungen oder Sonderzahlungen profitieren können, muss daher der Begriff „Mindestlohnsätze“ durch den Begriff „Entlohnung“ ersetzt werden, die eben auch solche Lohnbestandteile beinhalten kann.
  2. Tarifverträge müssen auch auf entsandte Beschäftigte angewandt werden. In Deutschland ist das momentan jedoch nur im Rahmen der wenigen für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge möglich. Von den rund 71.900 gültigen Tarifverträgen in Deutschland sind jedoch nur 490 allgemeinverbindlich und gerade einmal 20 davon enthalten Regelungsbereiche, die international zwingend gelten und daher auch auf entsandte Arbeitnehmer*innen anwendbar sind. Das liegt daran, dass sich nur diese geringe Anzahl an Tarifverträgen auf die wenigen Regelungsbestände des Paragraphen 5 des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes beziehen, nämlich auf Mindestlöhne, Überstunden und Urlaub. Tarifverträge mit darüber hinausgehenden Bestimmungen finden auf entsandte Beschäftigte, die in Deutschland arbeiten, keine Anwendung.

Um zwischen entsandten, lokalen und anderen Arbeitnehmer*innen echte Chancengleichheit herzustellen, müssen alle Rechtsnormen stets dem Grundsatz der Gleichbehandlung genügen: Sofern ein lokaler Standard existiert, muss dieser gleichermaßen für alle angewandt werden.

Eine prinzipielle Anwendung von Tarifverträgen auf entsandte Arbeitskräfte käme aber nicht nur den betroffenen Beschäftigten zugute, sondern würde auch einen enormen Beitrag zur Bekämpfung von Wettbewerbsverzerrungen leisten. Gerade aus Sicht der Unternehmen sollte dies ein erstrebenswertes Ziel darstellen. Wenn wir zudem für die Herstellung gleicher Ausgangsbedingungen für Arbeitnehmer*innen und Unternehmen auf dem europäischen Binnenmarkt sorgen können, trägt dies letztlich wiederum auch zu einer Verbesserung des Arbeitsumfeldes und der Arbeitsbedingungen aller Beschäftigten bei.

Und jetzt?

In Frankreich und Belgien ist die Revision der Entsenderichtlinie bereits zu einem wichtigen politischen Thema geworden. In Deutschland findet die Debatte derzeit fast ausschließlich in Expert*innengremien statt. Das muss sich ändern. Jetzt ist der Zeitpunkt, diese wichtige und wegweisende Weichenstellung für die Zukunft eines gemeinsamen europäischen Arbeitsmarktes zu gestalten. Dabei sollten nicht nur Expert*innen, sondern alle Bürger*innen mitreden können. Deshalb setze ich mich dafür ein, eine möglichst transparente und partizipative Diskussion zu den Änderungen zu führen.

Anständig bezahlt, fair behandelt, wertgeschätzt. Wenn ich in Zukunft die Zeitung aufschlage, möchte ich lesen, dass entsandte Arbeitskräfte anständig bezahlt werden und dass ihre Arbeitsleistung als Beitrag zur Integration des europäischen Binnenmarkts wertgeschätzt wird. Damit dieser Gedanke nicht nur ein frommer Wunsch bleibt, werde ich mich in den anstehenden Verhandlungen mit aller Kraft für eine Verbesserung der Situation von entsandten Beschäftigten einsetzen. Jetzt heißt es: Ärmel hochgekrempelt und ran an die Arbeit!